
02. Advent
~ artist fingers, scissor clavicles and night eyes~
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Liberty sah auf den Zettel in ihrer Hand.
Es handelte sich um ein Papierstück von äußerst moderater Größe, auf dessen einer Seite in kleinen Buchstaben ein Textausschnitt gedruckt war. Sie hatte versucht, ihn zu lesen, aber gemessen an den ausgefransten Ecken des Zettels war er Teil eines größeren Blattes und die paar Worte, die dort standen, ergaben ohne den Zusammenhang keinen Sinn. Auf die nicht bedruckte Seite des Zettels hatte jemand mit Kugelschreiber und in absoluter Sauklaue eine Uhrzeit, ein Datum und eine Raumnummer gekritzelt.
Die Uhrzeit war in fünf Minuten, das Datum der heutige Tag und die Raumnummer stand auf der Tür, vor der sie gerade stand.
Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, dieser ominösen Nachricht zu folgen. Eigentlich passte so ein Verhalten gar nicht zu dir.
›Aber über fehlende Logik müssen wir hier nicht nachdenken …‹ wisperte eine geisterhafte Stimme um sie herum. Das kam Liberty aus einem logisch nicht ersichtlichen Grund vollkommen plausibel vor und überhaupt nicht irgendwie komisch oder unheimlich.
Sie klopfte an die Tür.
»Herein!«, rief eine weibliche Stimme, die sie definitiv noch nie gehört hatte, ihr aber trotzdem bekannt vorkam. Unglaublich bekannt. Auf eine unterbewusste, tief verwurzelte Art, die ihr gruselig vorgekommen wäre, wenn ihr der Gedanke gekommen wäre.
Sie öffnete die Tür. Wie so viele Türen in diesem veralteten Schloss auch, war sie etwas schwergängig. »Ich sollte herkommen?«
»Genau. Und wie erwartet, bist du perfekt pünktlich!«
Der Raum war überraschend gemütlich, sah eher aus wie ein etwas veraltetes Wohnzimmer, als einer der zahllosen verwaisten Plätze im Schloss, mit einem plüschigen Sofa im Zentrum, auf dem ein Mädchen in ihrem Alter saß, eine überdimensionierte Tasse in der Hand, die Beine seltsam verknotet.
»Ich bin zu früh«, erwiderte Liberty reflexartig, trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Das Mädchen warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr. »Fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit. Das ist pünktlich.« Sie rückte sich die Uhr zurecht. »Zehn Minuten vorher ist noch akzeptabel, eine Viertelstunde vorher ist unverschämt. Zum vereinbarten Zeitpunkt aufzutauchen geht auch noch, und fünf Minuten später ist äußerster Toleranzbereich. Danach wird es unhöflich. Fünf Minuten zu früh ist perfekt.«
»Da kann man nichts gegen sagen«, meinte Liberty und musterte das andere Mädchen mit wahrscheinlich unhöflicher Intensität.
Blondes Haar, zu einem Dutt gebunden, Brille, graue Jogginghose, schwarzes T-Shirt und nackte Füße, eine Decke locker um die Schultern gelegt.
Sie hatte sie noch nie gesehen. Sie war sich absolut sicher. Sie konnte in ihren Gesichtszügen auch keine Ähnlichkeiten zu jemandem finden, den sie kannte. Trotzdem war da dieses äußerst beunruhigende Gefühl in ihrem Magen, dass sie etwas entscheidendes übersah, etwas essentielles.
Sie kannte dieses Mädchen.
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