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Kiefer Fichte Zweig 6

05. Advent

~ Elfenwein ~

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    Henry Coldwell sah zu, wie sich seine Hand ohne sein Zutun hob und gegen die Tür des Turmzimmers klopfte. Er hatte keine Ahnung, was genau er an diesem Ort tat oder warum genau er hergekommen war oder warum er überhaupt an diese Tür klopfen musste. Trotzdem konnte er nicht beschreiben, dass er es doch irgendwie wollte. Aber er wollte, ganz sicher.

    »Komm rein!«, rief eine Mädchenstimme aus dem Inneren.

    Er betrat den Raum und wurde von dem Geruch von frisch gebackenen Plätzchen mit einer leicht angebrannten Note fast erschlagen. In dem Turmzimmer befand sich etwas, das entfernt aussah, wie die Küche bei ihm Zuhause, so selten er dort auch Zeit verbrachte. Aber die Formen waren weniger verschnörkelt, alles war geradliniger, enger und einige der Anzeigeflächen leuchteten unerklärlicherweise bläulich.

    »Fuck. Fuck, fuck, fuck. Fucking fuckery.« Ein Mädchen stand vor dem Ofen, ein Blech mit zu dunkel gewordenen Keksen in den von dicken, unförmigen Handschuhen umgebenen Händen. »Holst du mal bitte das Rost aus der Spüle?«, fragte sie in Henrys Richtung, ohne ihn anzusehen.

    Henry kannte das Wort nicht. »Der was?«

    Das Mädchen murmelte etwas, das sich ein wenig wie ›Inzestkinder‹ anhörte und deutete dann mit dem Ellbogen in eine Richtung. »Das Ding, das aussieht wie ein Waschbecken aus Metall. Da holst du das Ding, das aussieht wie ein Gitter aus Metall raus und stellst es auf den Tisch.«

    »Was genau tue ich hier?«

    »Ich brauche das Rost, Henry Coldwell.«

    »Du hast mir einen Brief geschrieben.«

    »Hol das Rost, Henry Coldwell.«    

    Er holte das Rost.

    »Außerdem war es kein Brief, sondern eher eine gekritzelte Notiz. Meine Handschrift ist zu hässlich für Briefe.«

    Dem konnte Henry nur zustimmen und dachte an das Gekritzel auf dem Notizzettel, den er zwischen seinen Büchern gefunden hatte.

    Sie stellte das Blech auf dem Rost ab und zog sich die Handschuhe von den Händen. »Ich habe drei Bleche wunderbar hingekriegt. Drei ganze Bleche! Und dann taucht Kvothe auf einmal auf und bricht bei diesem Arschloch ein und achte ich nicht mehr auf die Zeit und natürlich hat die Eieruhr einen fucking Wackelkontakt. Und dann verbrennen die Kekse.«

    »Mein Beileid«, sagte Henry automatisch und fragte sich, was bei Merlins Bart ein Kvothe war. »Was tue ich hier?«

    »Mir all deine Geheimnisse beichten.« Das Mädchen holte von irgendwo her ein anderes Rost hervor, auf dem weitere Kekse lagen, dieses Mal aber nicht angebrannt. »Keks?«

    »Nein danke.« Henrys Hände und Füße fühlten sich mit einem Mal eiskalt an. Alle Geheimnisse beichten? Es gab viel zu viel, was er geheim hielt, viel zu viel, was die Welt niemals erfahren durfte.         ›Ich werde ihr gar nichts erzählen‹, sagte er sich und bemühte sich, daran zu glauben. Aber etwas

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