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Kiefer Fichte Zweig 6

22. Advent

~ Takeouts ~

    Liberty lächelte, ein wenig entschuldigend, und umfasste die Hand ihrer Großmutter. »Das weiß ich doch, Mamie«, sagte sie und legte ehrliches Bedauern, aber auch einen resoluten Unterton in ihre Stimme. »Aber wenigstens zum Ende der Ferien muss ich noch einmal nach Hause.« 

   »›Nach Hause‹.« Ihre Großmutter verzog die herrischen Lippen. »Liberty, Kind, dich muss nichts mehr bei diesen Leuten halten. Hier kann dein Zuhause sein. Wir können deine Familie sein.« 

  Vom Rande des Dachs ertönte ein befremdetes Geräusch. 

  Camille und Raphael Bellamie drehten sich ruckartig um, genau wie ihre Enkelin. Zwei Mädchen, etwa in Libertys Alter, beide blond, beide in Hoodies gekleidet, aber eine klein und mit einem Paar blauer Bluetooth-Kopfhörer um den Hals, die andere einen Kopf größer und aus einem unerfindlichen Grund eine getigerte Katze auf dem Arm haltend. 

  »Das klingt nach einer bösen, bösen Frau, die ihre Enkelin an einen Kinderporno-Ring verkaufen will«, sagte das kleinere Mädchen. 

  Das andere streichelte die Katze. »Das ist nur eine böse, böse Frau, die ihre Enkelin als Tochterersatz missbraucht und einen Erben für ihre reinblütige Familie will, Lindenzwerg. Außerdem ist Liberty siebzehn. Etwas zu alt für einen Kinderporno.« 

  Der Lindenzwerg zuckte mit den Schultern. »Hört sich nach gleichwertigem Menschenhandel an.« 

  Camille Bellamie richtete sich auf und strahlte das gleiche Level an Empörung aus, das eine Rentnerin wie sie zeigte, wenn man ihr erklärte, dass Rommé nicht nur darin bestand, Steinchen aneinander zu reihen. »Was tun Sie auf meinem Dach!« 

  »Gar nichts.« Das große Mädchen reichte die Katze sehr schnell an den Lindenzwerg weiter. 

  »Du weißt schon, dass ich den nicht wieder hergebe, oder Thya?«, fragte der und begann, die Katze zu streicheln.

   Thya hielt derweil eine Tastatur in den Händen und tippte darauf herum, was wohl nur möglich war, weil so ziemlich alle Anwesenden keine Ahnung hatten, was man mit zwei Fremden auf dem Dach anstellen sollte. 

  »So, Sie vergessen, dass wir hier waren und fahren mit Ihrem Gespräch fort. Raphael – Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich sie mit Ihrem Vornamen anspreche, oder? – Sie werden Ihrer Frau jetzt zustimmen und dann wirst du, Liberty, dich dafür bedanken. Klar?« 

  »Ich wüsste nicht, warum –« 

  Thya enterte auf ihrem Keyboard durch, sie und der Lindenzwerg verschwanden aus dem Blickfeld der Familie, ihre Gesichter wurden für einen Moment ausdruckslos, dann nickte Raphael Bellamie in Richtung Liberty. »Selbstverständlich. Die Tür zu unserem Haus wird immer offen für dich sein.« Das Gespräch wurde fortgeführt, als sei nichts geschehen.

  »Schreib uns von allem, was in Hogwarts passiert«, forderte ihre Großmutter sie schließlich auf. Das ›H‹ in ›Hogwarts‹ war immer noch nur schwer zu hören, obwohl sie inzwischen seit Jahren in England und nicht mehr in Frankreich lebte. »Wenn du Unterstützung brauchst, dann schreib uns das auch. Kleidung, Kontakte, eine Unterkunft – wir helfen dir.« 

  »Ernsthaft?« Die Stimme des wieder erscheinenden Lindenzwerg ertönte. »Hogwarts: Ist ein Internat.

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